Gleichzeitigkeit – Modelle der Simultaneität in den Wissenschaften und Künsten

Die Wahrnehmung des Menschen scheint seit der Moderne eine Zäsur erfahren zu haben. Was früher nach Modellen der zeitlichen und räumlichen Kontinuität organisiert war, stellt sich nun verstärkt asynchron und mehrdimensional dar. Nicht erst Einstein hat in Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie Simultaneität als adäquate Zeit-Raum-Kategorie beschrieben, indem er die Bewegungs- und Standpunktbezogenheit im Objekt-Beobachter-Modell dynamisch interpretierte. Auch in Film, Literatur, Fotografie, Architektur und Philosophie wurden Modelle der Gleichzeitigkeit entworfen, um im Anschluss an die Krise der Erkenntnis (Kant, Nietzsche) und den Kulturwandel der Moderne neue, an die pluralen und flexibilisierten Lebensbedingungen des 20. und 21. Jahrhunderts angepasste Formen der künstlerischen Darstellung und wissenschaftlichen Analyse zu schaffen.

Spätestens in der Gegenwart scheint Simultaneität damit ein entscheidender Faktor der Anthropologie geworden zu sein. Soll der Mensch der Jetztzeit konturiert werden, sind es Begriffe wie „Patch-Work“ und „Multi-Tasking“, die die Lebensformen der Postmoderne in griffige Formeln einpassen. Vermittels neuer Kommunikationstechnologien wird Globalisierung zu einer medial erfahrbaren Größe. Naturkatastrophen, Kriege und Krisen im wirtschaftlichen und sozialen Sektor werden dem Mediennutzer mit geringer zeitlicher Verzögerung zugänglich gemacht. Nachrichten und Meldungen aus aller Herren Länder werden als Symptome und Exempel in die Erklärungsmatrizen eingetragen, die durch Krisen eröffnet werden. Events wie Live8 und Public-Viewing-Veranstaltungen sind Ereignisse, die Gefühle eines globalen Zusammenlebens mobilisieren. Der Terrorismus und der Bankencrash erzeugen weltweit Szenarien der Bedrohung, die jeden zu betreffen scheinen. Die Künste und Wissenschaften sind vor die Herausforderung gestellt, Objekte der Heterogenität und Pluralität in einem gemeinsamen Sinnhorizont zu betrachten. Modelle der Simultaneität scheinen aus dieser Perspektive Experimente zu sein, durch die eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch) erzeugt werden soll. Sie sind nicht nur Momente der Auflösung und Sprengung gewöhnlicher Formen, sondern auch Synthetisierungs- und Stabilisierungsversuche, durch die heterogene Phänomene eine Rahmung erfahren und durch die im Modus der ‚Komposition des Ungleichen‘ selbst dort Vergleichbarkeit entstehen kann, wo diese nicht vermutet wird. Letztlich tragen Modelle der Simultaneität dem Wunsch Rechnung, den Überlagerungen und Konvergenzen von Wirklichkeits- und Zeitebenen durch die Entwicklung neuer Techniken und Methoden habhaft zu werden.

In der Konferenz „Gleichzeitigkeit – Modelle der Simultaneität in den Wissenschaften und Künsten“ soll es deshalb darum gehen, Entwicklungen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zu beschreiben, die einen Paradigmenwechsel von linearen zu simultanen Zeitkonzepten erhärten. Neben ästhetischen Verfahren und Narrativen (z.B. im Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Surrealismus und in der Postmoderne) und literaturwissenschaftlichen und philosophischen Kategorien und Erkenntnismodellen (z.B. Chronotopos, Perspektivismus, Simulacrum, Rhizom) sollen auch medien- und kommunikationstheoretische (z.B. audio-visuelle Medien: Split-Screen, Live-Schaltung), architektonische (z.B. Multifunktionalität in der modernen Urbanistik), pädagogische (z.B. Lehre des Lernens ‚mit allen Sinnen‘) und psychologische bzw. psychopathologische Konzepte von Gleichzeitigkeit (z.B. Traum, Trauma, Synästhesie, Schizophrenie, Paranoia) dabei helfen, die ethischen und erkenntnistheoretischen Implikationen simultaner Konstruktionen sichtbar zu machen.


Philipp Hubmann (Universität Münster) | p.hubmann@uni-muenster.de

Till Julian Huss (Kunstakademie Münster) | info@till-julian-huss.de